Weimar & Auerstedt

Gießen, den 29.08.03

Liebe Schwiegereltern – Inge & Karl,

Herzlichen Dank für Euren Geburtstagsbrief und das darin befindliche Schätzchen! Das Scheinchen kommt ins Schweinchen und wird ausgeschüttelt, wenn unser nächster Urlaub beginnt. Vermutlich Ende September, Anfang Oktober: Nord-Cypern. Vielleicht auch später, dann aber weiter weg. Sobald wir dann irgendwo in einem liebenswerten Lokal saturiert essen gehen & Wein trinken, werden wir auf Euer Wohl anstoßen!

Da Ihr im September ebenfalls nach Weimar fahrt, ist dies für mich eine gute Gelegenheit, Euch noch einiges über unseren eigenen 3-Tages-Urlaub zu berichten. Es sind hier im Brief nummerierte Fotos beigelegt, die ich zur Illustration meines Berichts benutze. Wir hatten immer mal vor, wieder nach Weimar zu fahren, denn dort hatten wir einige bislang unerledigte Dinge auf dem ‚Programm’: einmal bei dem Buchenwald-Mahnmal auf einer der Wiesen mit Aussicht über das weite Land, eine unserer Wein-Sessions zu veranstalten. (Dazu die beiden nächsten Bilder).

 

 

 

 

 

 

Sodann hatten wir endlich einmal vor, das Schloss Ettersburg zu besuchen – von dessen Bedeutung im Rahmen der deutschen Literatur-Klassik wir eine schwache Vorstellung hatten – immerhin soviel, daß wir einen Besuch in die engere Erwägung zogen. Schließlich noch den Park mit dem Goethe-Gartenhaus und das Goethehaus selber – oder was auch immer sich sonst unter der Hand ergeben sollte.

Unsere Nachbarn die Deetjens, mit denen wir diverse Tischgespräche führten, wobei Wolfgang Deetjen auch schon mal erwähnte, daß sein Großvater, Prof.Dr.Werner Deetjen, früher einmal in Weimar eine Rolle spielte: <Im Jahr 1916 wurde er Direktor der Großherzoglichen Bibliothek (heute Herzogin Anna Amalia Bibliothek) in Weimar> (siehe Wikipedia).

Nachdem Wolfgang erfuhr, daß wir nach Weimar wollten, schenkte er uns  kurz vor der Abreise eine kleine Schrift seines Großvaters Werner Deetjen von 1924, die ich Euch hiermit gerne im Brief mitsenden und wärmstens ans Herz legen will. Es geht um die „Ettersburg“. Diese Schrift hat mich die ersten beiden Tage (und schon am Abend zuvor in Gießen) enorm fasziniert, sodass ich zwischendrin, wenn sich die Gelegenheit bei diesen wunderschönen sonnigen Tagen ergab, in Ruhe darin las und mich immer wieder mit Barbara in angeregte historische und philosophische Gespräche über diese Zeit vertiefte.

 

 

 

 

Zumal Barbara nicht faul war und mir umgekehrt aus dem Buch von Sigrid Damm über Christiane Vulpius erzählte oder vorlas im Zusammenhang damit, daß wir das Goethe-Haus besichtigten bzw. besichtigen wollten, z.B. über Christianes Sterben. Vgl. dazu das nächste Foto von Christianes Gedenkstein auf dem ehemaligen Jacobs-Friedhof:

 

 

                     

 

 

Ich hätte nicht gedacht, auf welch enorm interessantes Buch ich hier bei Werner Deetjen („Auf Höhen Ettersburgs“, Ettersburger Hefte 1, Reprint, Weimar 1993) stieß! Es gehört nunmehr zu der engeren Auswahl meiner besonderen Bücher. Er schildert sehr anschaulich und mit ausgezeichnet ausgewählten Zitaten die ungeheure Bedeutung der Ettersburg für die deutsche Literatur-Klassik, speziell Goethe, und den guten Geist der Ettersburg, nämlich Anna-Amalia von Sachsen-Weimar. Ich denke, die Deetjen-Schrift ist eine hervorragende Ergänzung zu den Büchern Sigrid Damms, die die kritisch soziologische Seite der Goetherei beleuchten, nämlich vor allem, daß es einen sozusagen ‚reformistischen’ Macht-Aspekt gibt (Goethe im Zusammenspiel mit dem Weimarer Hof) und andererseits dialektischerweise den lt. Sigrid Damm ‚plebejischen’ Aspekt derer, die da nicht reinpassten (Lenz, Klinger; aber auch Jacobi, wenn man Deetjen liest; vgl. S.51 ff.) – und daß Goethe weitgehendst beide Aspekte in sich zu vereinigen suchte, daß aber eben der Macht-Aspekt immer der dominierende Aspekt bei ihm ist - und er im Zweifelsfalle den anderen (plebejisch-sentimentalischen, heutzutage auch ‚romantisch’ bzw. ‚sozialkritisch’ genannten) Aspekt mit allen Kräften des Verstandes in sich ausmerzt und - auch äußerlich - von sich wegstößt. Sonst wäre er ja nie so weit gekommen und so berühmt geworden. Zu seiner im Rahmen der Macht erlangten Position zählt als repräsentatives Gebilde das Goethehaus am Frauenplan. (Hier zwei Fotos: Das Goethehaus bei Nacht und der Garten des Goethehauses).

 

 

 

 

 

 

Wenn in den Büchern von Sigrid Damm der Schatten-Aspekt der Goetherei vorwiegend betrachtet wird, so wird in dem Buch von Werner Deetjen eine wichtige Ergänzung geliefert, als hier (Deetjens Zeit und seiner Position als Direktor der Großherzoglichen Bibliothek in Weimar entsprechend) der Licht-Aspekt einseitig betont wird, der m.E. bei Sigrid Damm leider etwas zu kurz kommt.

Es war für uns also ohne jeden weiteren Zweifel klar, daß wir nach unserer Abfahrt von Gießen am 25. August 03 als erstes Ziel in Weimar die Ettersburg hatten. Doch in Weimar verfuhren wir uns erst mal und wir landeten bei der mir schon von früher her bekannten Schloßanlage ‚Belvedere’ (dazu die nächsten beiden Fotos).

 

 

 

 

 

 

Doch schließlich und endlich waren wir an der geradezu entgegengesetzten Ecke der Weimarer Landkarte angelangt, nämlich bei unserem hehren Ziel des eigentlichen inneren Zentrums der deutschen Klassik, der Ettersburg. Dieselbe bot sich uns in einem ziemlich desolaten Zustande dar. (Vgl. die nächsten 4 Fotos).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aufgrund des Kontrastes zu der Lichtzeit dieser Burg, wie sie Werner Deetjen so plastisch darstellte, gab dieser sozusagen dialektische Gegensatz des jetzigen Verwahrlosungszustandes (allerdings mit neueren Renovierungs- und Wiederherstellungsbemühungen) zu allerlei Reflexionen Anlass. – Ich möchte Euch das Fazit mitteilen.

Es gab 1923 die Übergabe des Schlosses an den thüringischen Staat. Das wird im Vorwort bei Deetjen kurz angerissen. Aus dem Schloß wird nun ein Erziehungsheim gemacht und ist fortan für das Publikum nicht mehr zu besichtigen. Das Erziehungsheim existiert in dem Schloß bis 1945. Die Kellnerin der Gartenwirtschaft beim Schloß wusste, daß ab1945 irgendwas mit Justiz und Justiz-Schulung (erst sowjetischerseits, dann ostzonenseits) hier stattfand. Später dann in DDR-Zeiten übernahm die Katholische Kirche das Schloß als Altersheim – womöglich dadurch angeregt, daß hier nebenher noch eine intakte Kirche mit Kirchturm des ehemaligen vorprotestantischen Augustiner-Stifts vorhanden war. Vermutlich, da die Katholische Kirche in der DDR keine Kirchensteuer hatte und Bauten nicht erhalten konnte, verwahrloste dieses Kulturerbe immer weiter.

Unsere historisch- philosophische Reflexion sieht folgendermaßen aus: Erstens folgende Fragen: War es etwa so: Aufgrund der Revolution 1918 und der allgemeinen republikanisch-demokratischen Abwehrhaltung gegenüber den alten fürstlichen Zeiten werden die Schlösser als Verwaltungszentren 1918 in die Hände der neu organisierten ‚Länder’ (z.B. ‚Thüringen’) überführt. Die Fürsten, Großherzöge usw. sollen sich auf ihre Privatländereien zurückziehen. Doch was ist mit den ‚Lustschlössern’? Gehören die ebenfalls zum Privatbesitz der nunmehr entmachteten Herrschaften? Jedenfalls wird erst im April 1923 (also fast 5 Jahre nach der Revolution von 1918 und der Ausrufung der Republik) Ettersburg an den Staat Thüringen übergeben in einem sog. „Auseinandersetzungsvertrag“ über den man gar zu gerne die Hintergründe und die Vorgeschichte wüsste. – Und nun würde man gar zu gerne noch weiter wissen, welche Geisteshaltung dahinterstand, daß das Schloß Ettersburg nicht mehr von Dichtern und ihren staatlichen Mäzenen frequentiert werden sollte, sondern progressiverweise als Erziehungsheim irgendwelchen jugendlichen Rabauken samt ihren aufklärerischen Erziehern zur Verfügung gestellt wurde. Vermutlich hat man um diese Zeit eine Dissoziierung stattfinden lassen zwischen ‚reiner Literatur’ der Goetherei und andererseits der ‚Macht’. Die Literatur als solche hat also, kurz gesagt, dieser Dissoziierung nach, nichts mit Schlössern und Fürsten zu tun. Sie ist davon unabhängig. Daß zwischen beiden ein inniger dialektischer Zusammenhang (negativ und positiv) bestand, wird somit ignoriert. Also kann man 1923 auch diese Ettersburg neuen („sinnvollen“) Zwecken zuführen, da dieser Machtaspekt nur eine uninteressante Nebenrolle spielt, der jetzt durch andere, neue Förderungsrichtlinien für Kunst ersetzt wird. Dieses Prinzip der falschen Wahrnehmung und Ignoranz der wahren Realitäten wird nach 1945 in der Ostzone erst recht fortgesetzt – und man kann nur hoffen, daß jetzt nach der Wiedervereinigung eine neue Sichtweise auf die historische Realität sich durchsetzt und ihren Ausdruck zumindest in der gelungenen Renovierung des Schlosses Ettersburg findet – das zu einem Museum der komplizierten Dialektik der deutschen Klassik ausgebaut wird (was mein persönlicher Wunsch wäre). (Vgl. noch das nächste Foto).

 

 

 

 

Vermutlich hat Werner Deetjen 1924 (also ein Jahr nach dieser Fehlentwicklung) nicht ohne Grund seine Schrift geschrieben, um in diesen neuen republikanischen Zeitverhältnissen auf die wahre Bedeutung der Ettersburg deutlich und klar hinzuweisen.

Geschlafen haben wir zwei Nächte lang auf einem Parkplatz an der Hottelstädter Höhe – wobei mir die weite Landschaft leider ziemlich eintönig vorkam und ich die Schilderung von Eckermann mit dem alten Goethe, wo sie (wohl bei schöner Aussicht) ein paar Rebhühner verzehrten und guten Wein zusammen tranken (vgl. Deetjen, S.102), kaum nachvollziehen konnte. Doch lieferte mir Barbara endlich die Erklärung: die Eintönigkeit war der SED-Landwirtschaftspolitik zu verdanken, die sich große Kolchosflächen wünschte mit stalinschen Mähdreschern weitflächig bearbeitet. (In Weimar war übrigens eine Mähdrescherfabrik der DDR). Wir wurden auf unserem Schlafplatz an der Straße vom KZ-Buchenwald nach Hottelstädt lediglich einmal kurz von einem nächtlich aufkreuzenden Polizei-Auto behelligt, das unser friedlich schlafendes Statt-Auto mit strahlenden Scheinwerfern kurz begutachtete und dann wieder wortlos davon fuhr.

Aber die Ettersburg war natürlich nicht unser einziges Erlebnis auf diesem 3-Tage-Trip. In der Stadt Weimar selbst gefiel uns besonders gut das Künstlerlokal ACC, in welchem wir so manche selige Stunde verbrachten (vgl. 3 Fotos):

 

 

 

 

 

 

 

 

Am Tag nach meinem Geburtstag, dem 27. August war allgemein gemäß allen möglichen Wetterberichten bekannt, daß dieser Mittwoch unbedingt trüb sein würde, was auch halbwegs zutreffend war. Und wir hatten vor, in Bad Sulza in die dortige hypermoderneToskana-Therme einzukehren. Doch als wir dann daselbst vor der Tür standen, wurde renoviert. Auch sonstige Gäste in spe, die wir auf dem Parkplatz weit unten vor dem langen Aufmarschweg mit Gepäck warnten, waren entsetzt nach dem Motto: „Wir haben aber auch den ganzen Tag nur Pech!“ Ein dankbares Ehepaar aus Jena gab uns ein paar Tipps für die Gegend. Auch Barbara las eifrig Prospekte, einen davon, den ich aus der Winzergenossenschaft für Saale-Unstrut-Weine in Freyburg mitbrachte. Daraus folgte ein ganz neuer, nämlich ein napoleonischer Trip. Waren wir doch hier ganz dicht bei der Auerstedter Variante der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt von 1806.

 

 

Eckartsburg

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Barbara hatte aus einem der Prospekte herausgelesen, daß auf der Eckarts-Burg (allhier das Gedicht vom getreuen Eckart von Goethe geschrieben) eine Zinnsoldaten-Show von 1937 bzgl. der Schlacht bei Auerstedt im Turm der Burg zu besichtigen war. Das hat sich total gelohnt. Endlich hatte man eine halbwegs lebendige Vorstellung davon, was sich da abspielte (vgl. Foto) im Hintergrund rechts der Berg der Eckartsburg; Mitte rechts am Rand des Bildes, wo die Massen aufeinandertreffen, der Hohlweg, bei dem der Herzog von Braunschweig verwundet wurde. Das Bild ist die linke Hälfte, die preußische Seite des Schlachtfeldes. Rechts vom Hohlweg (also hier nicht sichtbar) ist die französische Seite.

 

 

 

Anschließend suchten wir das ehemalige Schlachtfeld als solches auf – und fanden es sogar nach etlichem Suchen (vgl. nächstes Foto, es zeigt die rechte, die Französische Seite neben dem ‚Hohlweg’, dem Zentrum der Schlacht; der Berg im Hintergrund verbirgt die Eckartsburg). Es gibt bei dem Hohlweg (vgl. übernächstes Foto) sogar ein kleines Denkmal für den dort schwerst verwundeten 72-jährigen Herzog von Braunschweig.

 

 

 

 

 

 

Als er genauer erkunden wollte, wie die Dinge denn nun in diesem mörderischen Hohlweg lagen, wo ein massenhaftes und stundenlanges übles Hauen, Stechen und Schießen zugange war, traf Seine Durchlauchts Kopf Höchstselbst ein französischer Schrapnell-Splitter, worauf die Flucht seiner Soldaten einsetzte.

 

 

 

 

– Auch hier wieder eine Reflexion: wenn der Sieg der zahlenmäßig unterlegenen Franzosen hauptsächlich deswegen zustande kam, weil ein listiger Flanken-Angriff der Franzosen auf der Eckartsburger Seite stattfand, und gleichzeitig an der Eckartsburg 20.000 Soldaten in Reserve standen, die nicht eingesetzt wurden. Was war denn da eigentlich los? Das würde einen doch mal genauer interessieren!

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Zum Abschluss unserer 3-Tages-Reise waren wir im Himmelreich, aus dem wir aber nach dem 3. Bier rausgeschmissen wurden, weil es schon ½ 7 war, aber eigentlich Punkt 18 Uhr das Himmelreich dicht macht. Der ziemlich kaputt aussehende Ostzonenengel ließ sich leider nur vorübergehend mit 2 Euro Trinkgeld für das dritte Bier erweichen. Dann auf einmal war Schluss mit dem Zauber und er räumte ziemlich rigoros die Gläser ab und warf uns – wie schon gesagt - aus seinem Himmelreich hinaus. Hier schnell noch das letzte gültige Foto vom Himmelreich:

 

 

 

 

Im Hintergrund links die Burg Saaleck, auf der ein deutscher Volkslieddichter beim Anblick der unter uns in einer großen lieblichen Schleife mit allerlei Eisenbahnverkehr usw. hinfließenden Saale auf die geniale Idee kam, daß die Saale einen „hellen Strand“ hat. Diese, offenbar nach zu viel Saale-Unstrut-Wein eingegebene Idee hat ihm – ob ihrer Absurdität – unsterblichen Ruhm verschafft. Man stelle sich nur einmal vor, er hätte geschrieben: „An der Saale hellen Seitenwänden“. Der Mann mitsamt seinem Lied wäre sang- und klanglos vergessen worden!

Damit bin ich am Ende meines Berichtes.

Viele schöne Grüße sendet Euch

Euer Schwiegersohn

Manni

 

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